In Erinnerung an Premier Tony Blair

Aus ‹DIE ZEIT›, vom 14.06.2007, Nr. 25

Die Lüge als höhere Wahrheit
Eine Erinnerung an die überwältigende Schauspielkunst des Tony Blair.

Von Raymond Geuss

Tony Blair schuf sich eine moralische Phantasielandschaft, die er mit der Wirklichkeit verwechselte. Im öffentlichen Leben wird häufig und auf vielfältige Weise gelogen. Finanzminister, die im Privatumgang vollkommen ehrlich sind, müssen sich gelegentlich gegen die Wahrheit versündigen, um notwendige währungspolitische Massnahmen durchzuführen, und Diplomaten sind gehalten, die Politik ihrer Regierung ins rechte Licht zu stellen, auch wenn sie wissen, dass sich gewisse lichtscheue Subtilitäten dieser Politik keiner allgemeinen Zustimmung erfreuen würden und daher besser unerwähnt blieben.

Es gibt kleine verschämte Lügner, wie die meisten Opfer der besonders in Grossbritannien beliebten Sexskandale, und grosse, unverschämte Lügner, die genau wissen, was sie tun. Tony Blair gilt als einer der erfolgreichsten Labour-Politiker der letzten fünfzig Jahre und auch als einer der grössten Lügner. Wie reimt sich das zusammen?
Der Schlüssel zum Verständnis des Politikers Blair ist seine einzigartige Verbindung von extremer schauspielerischer Begabung und religiösem Eifer. Ein besonders hartes, aber treffendes Urteil über ihn hat seine ehemalige Kabinettskollegin Claire Short gefällt: «Blair ist es eigentlich ganz gleich, welches Stück gespielt wird, solange er die Hauptrolle hat.» Da es in einem Theaterstück gar nicht um Wahrheit geht, sondern lediglich um überzeugende Darstellung, wäre Tony Blair demnach ein gesinnungsloser Opportunist, der überzeugend wirkt, weil er in der Lage ist, zuerst sich selbst von der Wahrheit dessen, was er sagt, und von seiner eigenen Wahrhaftigkeit zu überzeugen. Damit ist allerdings nicht das letzte Wort über den Fall Blair gesprochen, denn er ist auch ein gläubiger Christ, der in gewissem Sinne eine Moralisierung der Politik anstrebt. ‹Moralität› heisst im Westen überwiegend ein auf monotheistischen Restvorstellungen beruhender grosser Simplifikationsapparat: Es gibt einen strengen Unterschied zwischen einem unbedingt Guten und einem teuflisch Bösen, ohne Zwischenstufen.